Freitag, 12. Dezember 2014

Der Ausweg

Der Schauspieler, Ralf Tanner, kriegt keine Telefonanrufe mehr, aus beruflichen Plänen wird nichts, eine Frau beklagt sich darüber, er hätte sie mehrmals versetzt. Das kommt mir irgendwie bekannt vor, nicht? Dann entdeckt er einen Ralf Tanner-Imitator und gibt sich von da an auch „nur“ als Imitator aus, um seinem Star- Leben aus dem Weg zu gehen. Sein Konkurrent kann sogar besser imitieren, als er- das Original, was sich als Segen herausstellen wird. Und als er ein paar Tage später nach Hause geht, wird er von seinem Butler gar nicht mehr erkannt- Ralf sei schon zu Hause. 
Ich habe mich darüber gefreut, dass hier so klar und eindeutig der Zusammenhang zwischen dem ersten und diesem Kapitel ersichtlich ist. Hier ist Ralf die Hauptfigur, dieselbe Person, nach der in der ersten Geschichte am Telefon jeweils gefragt wurde. Schon klar, dass seine Karriere bergab geht, wenn Ebling einfach irgendwelche Durchsagen macht, und dabei so tut, als wäre er Ralf. Auch in „Gefahr“ wurde Ralf erwähnt. Er war derjenige auf dem Plakat. Welches Plakat, meinst du? Ach, das auf dem Hochhaus. Es bildete den Skandal in einer Hotellobby ab, wo Ralf von einer Frau angeschrien und geohrfeigt wird -Unangenehm Sache- kannst du mir jetzt wieder folgen? Gut. Nun, das erklärt einiges und das Bild von diesem Roman, das anfangs noch etwas verschwommen war, beginnt langsam aber sicher klarer zu werden. 
Zurück zur eigentlichen Situation: Ich kann mir vorstellen wie unangenehm diese Situation für Ralf gewesen sein muss. Schliesslich wissen wir, wie wenig er dafür kann. Klar möchte er aus diesem Rummel fliehen und als er diesen Typen entdeckt, der ihn, Ralf, an grösseren Anlässen imitiert, fällt es ihm wie Schuppen von den Augen. Er möchte sich als Imitator von sich selbst ausgeben. Es würde nicht besonders auffallen, da er in seinen Filmen so viel Make-up trägt, dass er mit seinem realen Aussehen nicht zwingend als Ralf Tanner erkannt wird. Ralf möchte also vor sich selber fliehen. Vielleicht schämt er sich für alles, was im Internet über ihn erzählt wird. 
Der Imitator Ralfs ist aber sehr stolz darauf, ihn zu imitieren. Er sagt, er lebe sogar schon im privaten Leben als Ralf Tanner. Da fragt es mich, wieso er so stolz darauf ist, Ralf sein zu können, wo er ja öffentlich verspottet wird. Ich kann mir aber vorstellen, dass er so gierig nach Ralfs Popularität ist, dass er von den schönen Seiten geblendet wird und ihm gar nicht bewusst ist, dass es in seinem Leben auch Unschönes gibt. 
Da der Imitator viel überzeugender spielt, wird er bald mit ihm verwechselt. Und so rutscht er ins Leben des echten Ralf Tanners. Ralf und sein Imitator haben quasi das Leben gewechselt. Zuerst ist Ralf etwas irritiert, danach spürt man aber seine Erleichterung darüber, dass er sein altes Leben losgeworden ist. So muss er die Probleme Ralf Tanners nicht mehr austragen und kann gedeckt als dessen Imitator mit dem Namen Mathias Wagner ein ruhigeres Leben führen.

Den Ausweg habe ich gefunden. Ich bin frei.

(Kehlmann, 2009, S.93).


Immer wieder wurde erwähnt, dass sein Aussehen mit jedem Foto und mit jedem Blick in den Spiegel, dem Ralf Tanner von den früheren Zeiten weniger zu gleichen scheint. Verliert er die Erinnerungen an sich selber? Möglicherweise sieht sein Imitator ihm gar nicht so ähnlich, übernimmt aber mit seinem Talent Ralfs Gesten nachzuspielen seine Stellung. Damit möchte ich sagen, dass die Leute und auch Ralf selber, den Imitator als den neuen, besseren Ralf ansehen und alle gewöhnen sich daran, dass er nun anders aussieht. Matthias Wagner erkennt sich in seinem Kinotrailer nicht mehr. Wird ihm erst jetzt, wo er Zeit für sich und zum Nachdenken hat klar, was er in seiner ruhmreichen Zeit alles für Aufmerksamkeit gemacht hat? Oder war in diesem Trailer bereits der neue Ralf am Werk?

Manchmal scheint es mir, als wäre ich ein anderer.

(Kehlmann, 2009, S. 93).



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